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Ermutigung zur Wahrheit
Wer aus welchem Grunde zur Abnahmestelle kommt und sich hier sein jeweiliges belastendes Material abnehmen lassen möchte, hat den
Bediensteten der Abnahmestelle nicht zu interessieren: Die Abnahmestelle ist für jeden da.
Was der Kunde loswerden möchte, ob er sich etwas abnehmen lassen möchte und was er überhaupt mit der bezahlten Zeit anfangen will, interessiert den Dienstleister nur insofern, als er ein Gespür dafür haben muß, was es jeweils ist, das er dem Kunden abnehmen muß. Er muß genau dies erkennen, um sich auf den jeweiligen Kunden so gut wie möglich einstellen zu können. Dann kann der Abnehmer dem seelisch belasteten Kunden folgen und ihm das seelische Material abnehmen.
Weil der Abnahme Suchende aber, wenn er zur Abnahmestelle kommt, offensichtlich niemand anderen hat, der ihm die seelische Last kostenlos abnimmt
und weil er sich in einer gewissen Notlage zu befinden scheint, gehen wir bei der Abnahmestelle davon aus, daß der Kunde kein Geld dafür ausgeben wird, daß wir ihm Unsinn oder Blabla abnehmen sollen – auch
wenn ihm dies selbstverständlich frei steht –, sondern statt dessen die Dienstleistung dazu nutzen möchte, etwas tatsächlich loszuwerden.
Hinter seinem Entschluß, zur Abnahmestelle zu kommen, vermuten wir erhebliche negative Gefühle und eine gewisse Not. Diese Gefühle müssen stark sein. Es
können Gefühle der Auswegslosigkeit und der Verzweiflung sein.
In jedem Fall werden sie aber so vorherrschend sein, daß sie sich immer wieder in das Bewußtsein des Kunden drängen, daß er diese Gefühle oder quälenden
Gedanken nicht los wird. Wir können sagen, daß diese negativen Dinge – das belastende Material –, die ihn spürbar bedrängen und derentwegen er die Abnahmestelle aufsucht, vom Kunden wahrgenommen werden, daß sie also eine
Wahrheit darstellen, d.h. wirklich vorhanden sind, und daß der Kunde sie in ihrer Wirklichkeit benennen will, um sie los zu werden. Er will also die Wahrheit sagen oder hat zumindest den Wunsch dazu.
Das, was der Kunde sagen und loswerden möchte, scheint also nichts Erfundenes oder Erlogenes zu sein. Das, worüber der Kunde etwa klagt, wird eher etwas
Tatsächlichem entsprechen, wird eher etwas Wahres sein als etwas Falsches, aus dem einfachen Grund, weil er es in sich deutlich als Last verspürt.
Ganz offenbar ist die Last etwas zumindest für ihn Wahres, das er mitteilen und loswerden will. Er hat zu seinem Leidwesen in seiner Bekanntschaft nur
niemanden (mehr), der ihm seine Wahrheit abnimmt.
Der professionelle Abnehmer wird dem Kunden das Wahre eher abnehmen können als das Falsche. Wenn der Abnehmer das Gefühl hat, der Kunde sagt seine
Wahrheit, so wird er das Gefühl haben, ihm dies abnehmen zu können: „Das verstehe ich, das kann ich gut nachvollziehen, das nehme ich dir ab!“
Je wahrhaftiger sich der Kunde ausdrückt, je direkter er das ausdrückt, was er loswerden will, desto größer stehen die Chancen, daß es ihm gelingt,
tatsächlich das ihn belastende Material loszuwerden. Er braucht dem Abnehmer nicht erklären, was er loswerden möchte, und er braucht nicht darüber zu sprechen, daß und was er abladen möchte, sondern er
kann das Material selbst sofort herauslassen und der Abnahme übergeben.
Je wahrer das Herausgelassene und der Abnahme Anheimgegebene ist, desto mehr ist der Abnehmer bei der Sache. Falsches kann er dem Kunden schlecht
abnehmen.
Der Abnehmer erledigt seine Arbeit desto besser, je ehrlicher der Kunde ist. Der Kunde will, daß ihm etwas abgenommen wird – dafür bezahlt er ja
–; er soll wissen, daß, je wahrhaftiger er ist, desto mehr ihm abgenommen werden kann.
Dem Kunden steht es selbstverständich frei, sich langsam der Wahrheit zu nähern, so wie es nur ihm überlassen bleibt, was er abgenommen haben will und
auf welche Art und Weise. Der Abnehmer kommt ihm in jedem Fall entgegen und versucht, dem Kunden so viel wie möglich an Belastung abzunehmen.
Der Abnehmer wird dem Kunden signalisieren, was er ihm abnehmen kann und was nicht. Der Kunde kann aber davon ausgehen, daß der Abnehmer einerseits
intelligent und einfühlsam genug sein wird und andererseits den Kunden auf gar keinen Fall andauernd im Ablade- und Entlastungsprozeß unterbrechen wird. „Signalisieren“ kann auch schweigen heißen: Laß es
heraus, laß es fließen.
Der Kunde darf und soll – wenn ihm danach ist – alles loswerden, was ihm auf der Seele liegt, er darf jammern, klagen oder wütend sein, wie
er will.
Wie befremdlich oder unwahrscheinlich die seelische Last auch immer aussehen mag – dem Abnehmer ist nichts Menschliches fremd.
Das Interesse des Abnehmers am Wahren in der Rede des Kunden mag zur Ermutigung beitragen, daß der Kunde seine Wahrheit sagt. Und wenn es das Motiv des
Kunden, die Abnahmestelle aufzusuchen, ist, das Wahre – aber Leidvolle – loszuwerden, dann steigert es die Qualität des Dienstes, wenn der Abnehmer den Kunden genau dazu ermutigt, d.h. wenn er ihm das
Gefühl gibt, daß er ihm die Wahrheit – seine ganze Wahrheit – sagen kann.
Natürlich drängt der Abnehmer den Kunden nicht zur Wahrheit – seine Rolle ist zuallererst die eines passiv Abnehmenden. Aber der Abnahmedienst
möchte dem Kunden deutlich zu verstehen geben, daß dieser ihm in aller Ruhe oder auch Dramatik sein Herz ausschütten kann. Mit Worten oder Tönen signalisiert er dem Kunden, daß er ihn versteht und ihm folgt. Damit
hält er das Mitgeteilte im Fluß bzw. sorgt er für ein Flußbett, in dem sich die Erzählung ausbreiten und vorankommen kann. Dort können die Sorgen abfließen, auf daß der Kunde sie los wird. Die Abnahmestelle ermutigt
also den Kunden zum Redefluß; sie ermutigt ihn, alles auszusprechen und am besten nach und nach die ganze Wahrheit zu sagen. Manchmal ermutigt sie ihn auch – wenn dem Kunden danach ist – zu schweigen und
ganz auf sein Inneres zu achten oder auch seine Müdigkeit als solche sein zu lassen. Darin liegt eben dann die Wahrheit.
Die Abnahmestelle macht um so mehr Sinn – sowohl für den Abnehmer als auch für den Kunden –, je mehr die Wahrheit gesagt oder gelebt wird.
Die Qualität des Abnehmens und Loswerdens nimmt in dem Maße zu, in dem der Kunde von sich aus bei der Wahrheit bleibt und es dem Abnehmer gelingt, den Kunden dazu zu ermutigen, so viel wie möglich von der Wahrheit
auszusprechen bzw. auszudrücken.
Literaturempfehlung:
Peter Töpfer Die
Wahrheit Sie sagen und in ihr leben
eigner verlag
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321 Seiten, erschienen 2006, Berlin
Inhaltsverzeichnis Einleitung Höllenangst Wohlfühlen und Erfahrung Die Bedürfnisse Verwandlungsanfällige Bedürfnisse
Die Verwandelbarkeit von Bedürfnissen Das bei der Verwandlung Übrigbleibende: die Sehnsucht Verletzung und Trauma Der Geist Vom Weg abgekommen Das Reagieren Die Verwandlung von Person in Maschine
Zufriedenheit „Liebe“ Das Kind in uns Unterwindung und Geschehen-machen Vergangenheit Die Verwandlung der Wahrheit Moral Die Weiterverwandlung der verwandelten Wahrheit
Die Empfindung der Unwirklichkeit Glück Das Monster Das Geheimnis Das Ausmaß der Trauer und das entfremdende Prinzip der Psychotherapie Verlassenheit Resignation Selbsttötung
Sein oder Nichtsein Der Kampf Die Krise Eine Stunde in der Wahrheitsgruppe Die Angst und der Prozeß der Wahrwerdung Ehre, Treue und Verrat Was ist Wahrheit? Gemeinschaft
Pawloffs Hund – die Informatik der Wahrheitswandlung Die Rückverwandlung der verwandelten Wahrheit Die Rückverwandlung verwandelter Bedürfnisse Künstelei Umgang mit Theorie
Das Anerkennen der Aussichtslosigkeit Hilfsmittel, sich treu zu bleiben Der Sinn des Lebens Die Dienste Es gibt keine Lüge „Krankheit“ Das Szenario und der große Trost Der kleine Junge
Die Weisheit der Jugend Intellektualität Körperwahrheit Der existentielle Hintergrund der Wahrheitstheorie Der theoretische Hintergrund der Wahrheitstheorie Nachwort: Widmung und Dank
Preis: 20,- Euro Bestellung über Kontakt
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